Liebe Jana,
ich bin gerade in Irland auf Familienbesuch. Die Tage sind hier gefühlt vier Stunden lang und zwischen kurzen Spaziergängen im Nebel, vielen Tassen Tee und ebenso vielen Stunden Quiz-Fernsehen denke ich über die Frage nach, die du mir im letzten Letter gestellt hast: Was will ich im nächsten Jahr loslassen?
Ich war noch nie jemand, dem das Loslassen besonders leicht gefallen ist. Der Gedanke, dass mein Leben irgendwann voll sein könnte und ich, um neue Dinge zu erleben, alte loslassen muss, macht mir schon immer eher Angst. Als Kind habe ich jedes Kinoticket in mein Tagebuch geklebt und „besonders schöne“ Schokoladenverpackungen sorgfältig in meiner Schreibtischschublade verstaut. Wer weiß, wozu man sie noch gebrauchen kann?
Aber genau das ist das Problem. Die meisten Dinge kann man nicht nochmal gebrauchen. Und selbst wenn man sie nochmal gebrauchen könnte, findet man sie nicht mehr in der übervollen Schublade. Leider hat mein Schlafzimmer heute noch immer sehr große Ähnlichkeiten mit meinem Kinderzimmer. Die Übergänge zwischen kreativem Chaos und Nervenzusammenbruch sind fließend, vor allem wenn ich der großen Kiste für „wichtige Dinge“ mein Masterzeugnis suche aber stattdessen ein Freundebuch aus der Grundschule, einen Schlüsselanhänger mit einem glitzernden T und eine einzelne Socke finde.
Natürlich könnte man jetzt argumentieren, dass ein Freundebuch auch wichtig ist und die andere Socke sich freut, ihren Lebensgefährten wieder an ihrer Seite zu haben. Aber ich lebe nun mal in einer Welt, die Unordnung bestraft und in der ich als freiberufliche Journalistin dringend meinen Shit together kriegen sollte. Also muss ich aussortieren. Ich nehme mir vor, Marie Kondo mäßig mein Leben in kleine Haufen zu unterteilen und alles Unnötige loszulassen. Das übriggebliebene Leben in Ordner abzuheften und in kleine beschriftete Boxen zu packen, um genau zu wissen, was vom Leben in welcher Box steckt.
Aber als ob das Ausmisten von Dingen nicht schon anstrengend genug wäre, gibt es dann auch noch das Loslassen von Sachen, die sich nicht einfach in eine Box packen lassen. Meistens schreibe ich am Ende des Jahres eine große Liste von Dingen, die ich erreichen oder machen will. Was ich auf mein Leben obendrauf packen oder in die kleinen Zwischenräume hineinstopfen will. Nur um mich dann ein Jahr später zu wundern, dass ich nicht alles geschafft habe und stattdessen tatsächlich noch müder bin als ein Jahr zuvor.
Natürlich wäre es schlauer, zuerst alte Ziele zu streichen, bevor ich mir immer wieder neue vornehme und mein Leben sich in eine niemals endende To-do-Liste verwandelt. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Und dass mir das Loslassen von Zielen, Projekten und Ansprüchen an mich selbst so schwerfällt, ist auch nicht nur meine eigene Schuld.
In unserer Gesellschaft hat fast jeder Meilenstein im Leben einer Frau ein festgelegtes Mindesthaltbarkeitsdatum. Ein „Best before“, das sich langsam in meinen 30ern an mich heran schleicht. Kinder kriegen? Best before 35. Karrierehöhepunkt? Am besten vor dem Kinderkriegen und auch: Vor dem Verfall der körperlichen Schönheit (je nach Budget für Enhancements um die 40). Kein Wunder, dass ich da jedes Jahr müder werde. Die Zeit vergeht munter weiter und so viel Leben lässt sich gar nicht in die Jahre packen, die mir laut Gesellschaft noch übrig bleiben.
Ich weiß, dass das diese Grenzen ausgedachter Quatsch sind. Sie sind unrealistisch und machen unglücklich. Deshalb will ich im nächsten Jahr neben meinen unsortierten Papierbergen vor allem den Gedanken an das Mindesthaltbarkeitsdatum loslassen. Ich bin schließlich kein seltsam riechender Joghurt und es ist okay, dass ein Tag nur 24 Stunden und ein Leben irgendwann erstmal voll genug ist.
Statt die Monate zu meinem 33sten Geburtstag panisch herunterzuzählen, will ich sie mit so vielen schönen Momenten wie möglich füllen. Mit den Menschen, die mir wichtig sind tanzen, lachen, singen, rumliegen. Weiter über das Leben nachdenken, schreiben und in (Radio-)mikrofone sprechen. Das Gefühl der Dankbarkeit für alles was schon ist genießen, das mich neuerdings immer häufiger überkommt. Die kleinen Zwischenräume genießen, die das Leben schön machen. Es ist schließlich mein neues Jahr. Und das darf ich auch weiterhin so nutzen und verschwenden, wie ich will.
Danke, dass du im letzten Letter so offen über Nähe und Distanz in Beziehungen geschrieben hast. Ich weiß nicht so ganz, welcher Bindungstyp ich wäre, aber ich finde, du und der Käseknäcke-Freund klingt, als würdet ihr euch wie Gürkchen und Kümmel perfekt ergänzen.
Ich hoffe, du hast einen guten Start ins neue Jahr! Und danke an euch alle, die Re:ply in 2024 gelesen haben. Wir sind froh, dass es euch gibt 💜.
Was ich dich für die nächste Ausgabe fragen wollte: Bist du online eine andere Person als im echten Leben?